Überarbeitete Fassung eines Artikels von Ilse Wellershoff-Schuur in der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“ vom Januar 2007
Es ist Abend in Galiläa. In diesen Oktobertagen wird es früh dunkel, denn die Uhren sind schon auf Normalzeit zurückgestellt. Um kurz nach fünf ruft der Muezzin das Ende des Fastens aus. Es ist Zeit für das futur, das tägliche Fastenbrechen. Im Ramadan wird jeden Tag gefastet, solange die Sonne am Himmel steht. Die Mahlzeit, die dann folgt, ist ein soziales Ereignis, das in den unterschiedlichsten Konstellationen begangen wird – in der Großfamilie, in Arbeitskollegien, unter den Kindergarteneltern… an jedem Tag isst man mit anderen Menschen zusammen. Und so hat dieser Monat etwas sehr Festliches – das futur isst niemand allein, entweder man lädt ein oder man ist eingeladen…
An diesem Abend essen etwa 100 Menschen gemeinsam. In der Begegnungsstätte Sha‘ar laAdam Bab l‘ilInsan im Wald nahe dem Kipbbuz Harduf feiern wir das Zusammenfallen dreier Feste: Dass das jüdische Laubhüttenfest Sukkot mit Michaeli zusammenfällt, ist nichts ungewöhnliches. Denn da der jüdische Kalender trotz seiner exakten Mond-Monate eigentlich ein Sonnenkalender ist, der die Unstimmigkeiten durch Schaltmonate ausgleicht, fällt Sukkot immer in die Herbsteszeit. Der Ramadan dagegen wandert durch das Jahr, denn der islamische Kalender ist ein reiner Mondenkalender. Im nächsten Jahr wird der Ramadan etwa zwei Wochen früher beginnen. In diesem Jahr feiern Juden und Muslime gleichzeitig, und dass außerdem noch Michaeli ist, verleiht diesem Fest, zu dem wir als Initiatoren der Begegnungsstätte geladen haben, den übergeordneten Sinn. Es ist ein menschheitliches Fest, das hier gefeiert wird, und im Wahrnehmen all dessen, was bei den Menschen der verschiedensten Volksgruppen, Religionenen, Traditionen und Kulturen lebendig ist, werden auch Aspekte des Michaelsfestes neu beleuchtet. Wie trägt der Ramadan mit seinem Element der Willensschulung dazu bei, den Menschen vorzubereiten auf die Aufgaben, die anstehen? Erfahren wir im Laubhüttenfest nicht täglich, dass unsere irdische Heimat nur eine vorübergehende ist?
Fragen wie diesen wollten wir auf die Spur kommen, wenige Wochen nach dem Ende des Libanonkrieges, in einem Treffen unter dem Thema „Religion und Krieg“. Eigentlich hätte es heißen sollen: „Religion und Frieden”, aber das war einigen der Planer so unmittelbar nach dem Krieg zu watteweich. Hatten sie nicht gerade einmal wieder erlebt, dass Religiosität zu Krieg führen muss? Wer sind denn in dieser Gegend die Falken, wer die Tauben? Gerade die vermeintlich „Religiösen” schüren doch den Hass, egal ob militante Siedler, die davon ausgehen, dass das Heilige Land von Gott nur ihnen versprochen wurde, oder Gotteskrieger der Hamas oder Hisbollah, die im Namen des Islam das Land von den Ungläubigen befreien wollen.
Das erste, was die drei Religionsvertreter von Islam, Judentum und Christentum auf dem Podium feststellen mussten (denn nach der gemeinsamen Mahlzeit wurde erst einmal ausgiebig geredet, bevor es anschließend noch eine eindrucksvolle jüdisch-arabische Theaterproduktion zu sehen gab), war genau das Gegenteil des obigen, oft und gern von weltlich eingestellten Menschen geäußerten Vorurteils: Was die Fundamentalisten aller Art Religion nennen, ist eben meist nicht wirklich religiös. Sie berufen sich auf Gott, um Frustrationen und mangelndes Selbstwertgefühl zu überspielen. Ihr „Glaube” besteht oft zum größten Teil aus dem Gefühl, zu den „Guten” zu gehören, die die Bösen vernichten müssen. Ein solcher Fundamentalismus zieht seine stärkste Legitimation aus der Überzeugung, dass Gott es so gewollt hat… Ein individueller Bezug zu Gott ist bei vielen Fundamentalisten ganz untergeordnet gegenüber der Bindung an die Gruppe, der Tradition, Volkszugehörigkeit.
Religion dagegen ist das individuelle Aufsuchen einer Verbindung zur göttlichen Welt. Was die drei Richtungen angeht, die hier miteinander im Gespräch waren, so ist eine gemeinsame Überzeugung die Schöpfung des Menschen als Gottes Bild, als eines Geschöpfs, das seinem Schöpfer nacheifern, ihm dienen, von ihm lernen, sich durch seine Hilfe entwickeln möchte. Shaar laAdam – Bab lilInsan, das heißt: Das Tor zum Menschen, zum Menschsein. Dieses Ziel eint die so verschiedenen Menschen, die sich hier treffen: Den jüdischen Gelehrten, den muslimischen Richter, den jungen israelischen Soldaten, die anthroposophischen Künstler den arabisch-israelischen Rechtsanwalt, die Franziskanernonnen, den christlich-arabischen Initiator des „Hauses der Hoffnung”, den Regisseur, der um das neue Judentum kämpft, wie die Waldorflehrer, den Beduinenführer oder die unterzeichnete Pfarrerin der Christengemeinschaft.
Unser großes Michaels-Laubhütten-Ramadan-Fest hatte neben dem Beginn des Gesprächs über religiöse Themen das Ziel, eine Initiative vorzustellen, für die alle Freunde der Begegnungsstätte gemeinsam eintreten wollen: Das Zentrum dieses besonderen Ortes in Galiläa soll ein Gebetshaus werden, das alle Menschen nutzen können, die es wichtig finden, dass das Göttliche im Menschen von der Verbindung zu seinem Ursprung lebt, egal ob wir Juden, Muslime, Drusen, Buddhisten (ja, denn auch die gibt es dort…), Freidenker oder Christen verschiedenster Konfessionen sind. Entworfen wurde das Haus von Robert Lütjens und Gabriele Hübener aus der Gemeinde der Christengemeinschaft in Oldenburg. Sie fanden auf Anhieb die Form, mit der sich die Träger der Begegnungsstätte verbinden konnten, einen schlichten Raum, der sich auch zum Feiern der Menschenweihehandlung eignet, eine ovale Mauer, die die weiteren bescheidenen Innenräume birgt, und die zudem einen geschützten Innenhof als Vorraum umfaßt.
Ein Teil des Waldes heißt schon jetzt im internen Sprachgebrauch — das Gebetshaus. Mit Hilfe verschiedener Projekte versuchen wir nun, das Geld für den Bau zusammenzubekommen. Das ist nicht einfach, denn es gibt keine „Gemeinde“, die das Geld sammeln und eventuelle Baudarlehen abzahlen könnte. Unser Verein, der Freundeskreis der Begegnungsstätte in Israel, braucht die kleinen Beiträge und Spenden für die vielen Initiativen, die dort stattfinden, damit die Menschen ein gesundes Miteinander entwickeln über die im Alltag oft unüberwindlichen, wenn auch äußerlich unsichtbaren Grenzen zwischen den Kulturen: Schulkinderprogramme, Frauengruppen, Sprachkurse, Theaterpädagogik für arabische Kinder und die Feste als Begegnungen der größeren Gemeinschaft.
2002 konnte ich hier das erste Mal von den noch ganz neuen Ideen berichten. Inzwischen ist viel passiert. Der Wald ist bereichert um eine gut ausgebaute Versammlungsstelle, die Freiluftbühne, feste Zelte, Versammlungsstätten, sanitäre Anlage, eine Küche, und die Kiefernmonokultur wird nicht nur von einem kleinen Gemüse- und Kräutergarten aufgelockert, sondern wir haben auch einige landestypische Bäume pflanzen können. Immer wieder haben unsere Jugend-Sommerlager zur Entwicklung des Ortes beitragen können. In diesem Jahr war zur geplanten Reisezeit Krieg. Die Hoffnungen auf einen Frieden von außen sind minimal geworden in der Region. Überall breitet sich Frustration aus, Hoffnungslosigkeit, die einen guten Nährboden für Fundamentalismus bietet. Die einzige Hoffnung ist der innere Friede, der Friede im Kleinen, zwischen Nachbarn. Hier sind die Keime der Zukunft, die den Menschen den Mut geben, überhaupt weiterzuarbeiten an einer freundlicheren Welt. Initiativen wie Shaar laAdam – Bab lilInsan gehören dazu. Es ist anrührend, dass die erste große Frage, die dabei entsteht, ist: Wie finden wir eine echte Spiritualität, eine wirklichkeitsnahe, menschliche, lebenswerte, individuelle Form uns dem Göttlichen wieder zu verbinden, jeder auf seine Art?
An diesem Ort beginnt man zu verstehen, wann das erneuerte Christentum wirklich mehr ist als eine Spielart der konfessionellen Religionen. Alle können etwas damit anfangen, das Gespräch lebt von der Fähigkeit sich einzufühlen in die verschiedensten Wege zu Gott. Am Ende des Podiumsgesprächs wurde eine Geschichte erzählt:
Ibrahim, der Abraham der isIiamischen Tradition, beköstigte in seinem Zelt regelmäßig die Armen. Da kam einmal ein alter Mann, der vor dem Essen das Tischgebet nicht sprach. So warf er ihn wieder hinaus, denn es ist doch sehr unhöflich nach islamischer Sitte, die Mahlzeit ohne Gruß an den barmherzigen und gütigen Gott zu beginnen. Kurz darauf besuchte Djibril, der Erzengel Gabriel, der im Islam mit den Menschen spricht, Ibrahim und tadelte ihn: „Ich habe nun schon seit 77 Jahren Geduld mit diesem Mann, und du schaffst es nicht einmal einen Tag lang? Hol ihn zurück und gib ihm zu essen!” Da holte Ibrahim ihn zurück und lud ihn noch einmal zum Essen ein. Der alte Mann wollte nicht ganz glauben, dass er es ernst meinte, und fragte ihn, warum er seine Meinung geändert hätte. Da erzählte ihm Ibrahim von der Begegnung mit Djibril. Der alte Mann schaute ihn mit großen Augen an, sprach das Dankgebet und sagte voller Überzeugung: „Dein Gott ist mein Gott!“
Ilse Wellershoff-Schuur
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