Ein Auge für ein Auge … Einen Zahn für einen Zahn … – Zur aktuellen Lage im Heiligen Land

von | 11. Dez. 2023

Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmahl für Brandmahl, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.

2 Mose 21,24

So ist das also … Wiedergutmachung ist gemeint. Was aber ist, wenn der Schädiger das nicht von selbst tut? Die Weisung von göttlicher Seite sagt darüber wenig, am wenigsten natürlich, dass man sich das Auge dann selbst holen darf … Wir dagegen benutzen das Bibelzitat meist so, als gehe es um Rache. Was wollen wir damit eigentlich sagen? Zu welchen schnellen Urteilen führt es bei uns?

Wir hören viele dahingesagte Bemerkungen: »Da hauen sie schon wieder drauf in Israel, Auge um Auge, Zahn um Zahn … nichts als Rache und Sühne. Etwas anderes kennt man da unten nicht«, oder schlimmer noch: »Das sind Religionen, die dieses Prinzip verfolgen, denen die Menschen da immer noch folgen. Wir Christen dagegen …« Fast selbstgerecht spricht man bei uns davon, dass im Nahen Osten ein »Rachefeldzug« tobt, eine unmäßige Reaktion auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober, mit dem Israel Sühne sucht für das, was den Menschen in den Orten an der Grenze zu Gaza angetan wurde … Torturen, die von Menschen verübt wurden, die wohl ihr Menschsein vergessen oder verlernt hatten … Keine Un-Menschen, bei aller Unmenschlichkeit, keine Tiere, wie es einzelne radikale Politiker laut hinausposaunten.

Merkwürdige Reaktionen löst das bei uns aus. Dabei ist es weniger das Gesagte als die Lautstärke, mit der gesagt wird, dass es nicht gesagt werden dürfe. Dabei wird es doch überall gesagt … Und viel Ungesagtes schwingt mit.

Das offizielle Kriegsziel ist tatsächlich nicht Rache. Offiziell geht es um die Zerschlagung der Terrororganisation, von der wir inzwischen wissen, dass sie das Pogrom akribisch und langfristig vorbereitet hatte. Es war kein spontaner Ausbruch von Frustration derer, die in Gaza seit 1948 mehr oder weniger wie in einem großen Gefängnis gehalten werden – von Ägypten (1948–1967 und danach mit starker Grenzkontrolle), der UNO (seit 1948 den Status der Flüchtlinge perpetuierend), von Israel (1967 bis 2005 und danach durch die starke Grenzsicherung/ Abkoppelung) und der Hamas (seit 2007, die, nachdem sie einmal als Volksvertretung gewählt wurde, die Macht ohne Wahlen für sich beansprucht und damit eine Zweistaatenlösung für Gaza unmöglich macht).

Man könnte ein Aufbegehren des Einzelnen verstehen, auch einen Volksaufstand. Wie machtlos müssen die Menschen sich in diesem überbevölkerten kleinen Landstrich fühlen, der flächenmäßig nur etwa halb so groß ist wie der Stadtstaat Hamburg. Hier leben etwa zwei Millionen Menschen, zwei von fünf Einwohnern sind jünger als 14 Jahre, der Altersschnitt liegt bei gerade einmal 18 Jahren. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Bevölkerung Gazas nahezu verdoppelt – entsprechend wenige der heutigen Bewohner haben also 2006 die Hamas gewählt! Es leben dort überwiegend Nachkommen von Menschen, die 1948 aus dem israelischen Staatsgebiet geflohen sind, ewige Flüchtlinge, unter dem Schutzschirm der UN.

Wer Aufstand übt, wird niedergeschlagen; wer gewaltlos handelt (auch das hat es gegeben), erreicht wenig; wer kooperiert, wird über den Tisch gezogen. Wer sich anpasst, bleibt staatenlos und eingesperrt, mit wenig Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben. Und wer einen gnadenlosen, grausamen, blutigen und durch nichts zu rechtfertigenden Anschlag auf die Nachbarn verübt, der wird in der Heimat zwar gefeiert, aber von den Israelis gnadenlos verfolgt – mit der offiziellen Begründung, dass so etwas eben nicht wieder geschehen darf. Dass man dafür sorgen muss, dass Familien an einem Feiertag in Ruhe am Frühstückstisch sitzen können, ohne dass ein Rudel schwer bewaffneter Männer kommt, deren einziges Ziel es ist, durch Mord, Vergewaltigung, Verschleppung Angst und Schrecken zu verbreiten. Und bei diesen idyllischen Familien, um deren Sicherheit man sich sorgt, geht es nicht nur um jüdische Israelis, denn unter den Opfern befanden sich auch arabische Menschen, insbesondere Beduinen aus dem Grenzgebiet, aber auch arabische Sicherheitskräfte und Sanitäter, die auf dem überfallenen Musikfestival heroisch für die Opfer kämpften und als Palästinenser nicht verschont wurden. Nicht einmal die Oma mit Kopftuch war sicher. Unter den Geiseln befinden sich sowohl etliche arabische Menschen wie eine ganze Reihe ostasiatischer Gastarbeiter, die in der Altenpflege und auf den Feldern der Kibbuzim arbeiteten. Dass keiner in der Nähe der Grenze (oder anderswo in dem kleinen Land) sich mehr seines Lebens sicher sein kann, das kann keiner wollen.

Aber wie lässt sich Sicherheit erreichen? Durch kriegerische Handlungen? Viele Israelis sagen: Das führt zu immer mehr Hass und Gewalt, zu neuen Generationen von Terroristen. Andere berufen sich darauf, dass man die Kriminellen unschädlich machen muss, da sie nicht im Entferntesten daran denken, ihre Taktik zu ändern. Aber das hat nur eine – wenn auch sehr geringe – Chance, wenn man bittere Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung in Kauf nimmt, die vor allem dadurch entstehen, dass die Terroristen sich inmitten der Bevölkerung verstecken, am liebsten dort, wo ein Angriff auf sie sofort zur humanitären Katastrophe führt, die dem Angreifer zugeschrieben wird. Das ist eingeplant und durchaus gewollt. Nützt es dann überhaupt, Krieg zu führen? Aber: Was kann man anderes tun, das die Bevölkerung schützt?

Ein Ohr für ein Ohr schenken.

Trotzdem – das Kriegsziel ist nicht Sühne und Rache, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es wäre fast »schön«, wenn man so weit wäre, denn dann ginge es schon um Schadensersatz, Ausgleich, Wiederherstellung des Gleichgewichts. Das wäre vielleicht ein Schritt auf dem Wege der Heilung. Das Kriegsziel … eigentlich ist das etwas sehr Unbestimmtes. Jeder hat seins, und es wird höchstwahrscheinlich keins geben, das alle eint.

Was also wird werden? Wir leben mitten in einer Gemengelage, die sich noch in viele Richtungen entwickeln könnte. Und nicht wenige hoffen, dass die Katastrophe, die Krisis, dazu führt, dass ein neues Denken einsetzt. Und dass nicht zu viele besonnene Menschen das Land verlassen …

Die Hamas ist sicherlich nicht der Ansprechpartner für den langfristigen Ausgleich, für eine Verhandlung über Lebensbedingungen für alle, die sich gegenseitig möglichst wenig schaden. Aber auch die derzeitige israelische
Regierung wird nicht in der Lage sein, an diesem Ausgleich mitzuwirken. Im Gegenteil, sie hat nicht unerheblich zu einer Lage beigetragen, in der das Massaker der Hamas möglich wurde. Schon vor dem 7. Oktober war die Regierung sehr umstritten. Ein Regierungschef, der einen Pakt mit Extremisten eingegangen ist, um sich vor Strafverfolgung zu retten?

Die Bevölkerung ist deutlich anders gestimmt. Und doch – wie setzt man einen Staatschef mitten im Krieg ab? Und wie überwindet das Land die große Spaltung zwischen dem alten Denken (das offensichtlich versagt hat) und neuen Ansätzen der israelischen Zivilgesellschaft, die auch in sich noch sehr bunt ist? Spaltung in dieser Frage ist uns auch in Mitteleuropa nicht unbekannt. Differenzierte Haltungen haben es schwer gegenüber vereinfachenden Ansätzen, die in den Filterblasen der sozialen Medien zu Hass und Häme führen, gerade wo das »Auge um Auge, Zahn um Zahn« selbstgerecht angeprangert wird. Wir wollen wissen, was richtig ist, wer die Guten sind, wer die Bösen. Wer ist Opfer, wer ist Täter? Sind nicht alle, die Gewalt anwenden, böse? Oder wer ist wodurch gerechtfertigt? Können wir nicht »einfach« ganz auf Gewalt verzichten, von allen Seiten? Welche Traumata spielen uns in die Gefühlslage hinein? Die Traumata wachsen auf allen Seiten, die Menschen in Gaza, die in Angst vor Angriffen leben, die Angehörigen der Opfer, die noch nicht fertig getrauert haben, und die Geiseln, die unter unsäglichen Bedingungen auf eine Wendung des Schicksals warten, die wohl für viele nicht kommen wird. Gewiss, Gewaltlosigkeit ist das Ideal. Aber wie weit dürfen wir gehen? Ich kann die andere Wange hinhalten, wo ich bedroht werde. Aber darf ich die Wange (m)eines Kindes hinhalten? Mich heraushalten, wo andere bedroht werden? Ich kann nur für mich selber sprechen, aber ich persönlich habe kein Kind, das ermordet wurde oder in Geiselhaft sitzt.

Eine Mutter namens Michal spricht in einem Interview davon, wie sie mit dem Tod ihres jungen einzigen Sohnes umgeht, der auf dem Musik-Festival ermordet wurde. Sie spricht vom Schmerz, aber auch davon, wie sie ihm in einem großen Licht begegnet ist, wie er zu ihr davon sprach, dass nur die Liebe zählt. Und wie sie damit umgeht, dass Menschen sie nun instrumentalisieren wollen. Einige wollten den Namen ihres Sohnes (»Laor – zum Licht«) auf eine Rakete schreiben, die nach Gaza geschickt werden sollte – eine grausame Tat, die sie verhindern konnte. Andere wollten sie vor den palästinensischen Karren spannen, aber auch das empfand sie als Übergriff. Ihr geht es seit dem Tod ihres Sohnes um den tiefen Ausgleich zwischen Menschen, die sich gegenseitig zuhören und den Schmerz miteinander teilen, wie es die »Bereaved Parents« seit Jahren tun, Eltern beider Seiten, die im Konflikt ein Kind verloren haben und füreinander da sein wollen.

So etwa geschieht es in unserer Begegnungsstätte Sha’ar laAdam – Bab l’il Insan in Galiläa in diesen Tagen, wo arabische und jüdische Jugendliche miteinander leben und lernen. Hier treffen sich viele Freunde aus dem Umfeld im Andachtshaus, um sich in einer Zeit voller Misstrauens von ihrer Gefühlslage zu erzählen und einander gute Nachbarn zu sein, jüdische, muslimische, christliche Menschen aus Galiläa.

Vielleicht schenkt man einander so ein Ohr für ein Ohr, schaut mit dem Auge, das man einander schuldet, auf das Gemeinsame und kann Leben für Leben im Kleinen anfangen, eine neue Kultur der Menschenliebe zu schaffen. Frieden ist noch ein zu großes Wort …

Titelbild: James Ballard, Unsplash

2 Kommentare

  1. Hans-Peter Krause-Batz

    Danke für diesen Beitrag. Sowas ist selten in dieser von Emotionen aufgewühlten Zeit.

    Antworten
  2. Axel Ziemke

    Das gehört zum Besten, das ich über den Gaza-Krieg gelesen habe. Ich erlaube mir, das auf Englisch meinen vielen ägyptischen Freunden zu schicken.

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