„Was vorliegt, ist, dass die Menschheit sich seit der letzten Jahrhundertwende im Stadium einer rätselhaften Völkerwanderungsbewegung befindet. Ein riesenmäßiger kosmopolitischer Zug geht durch die Welt. Er ist die eigentliche Götteropposition gegen das Nationalitätsprinzip, das sich seit dem ausgehenden Mittelalter hatte bilden müssen, das aber heute längst in eine ausschließlich verengende Verhärtung eingemündet ist.“
Emil Bock: Völkerwanderung – in CG/7/1947
Die Götteropposition gegen das Nationalstaatsprinzip… Der Paradigmenwechsel, der mit diesem von Pfarrer Emil Bock, einem der Gründer der Christengemeinschaft, 1947 so beschriebenen Phänomen ist seitdem stetig vorangeschritten. Das „Nationale“ können wir eigentlich nur noch als zeitgemäß empfinden, wenn wir es völlig neu definieren – so in etwa als das Gemeinschaftsgefühl der in einem bestimmten geografischen Gebiet lebenden Menschen, gleich welcher Herkunft, Ethnie, Sprache, Religion… Alles andere ist in diesen „Völkerwanderungszeiten“ fragwürdig geworden, vor allem weil es meist in gruppen-egoistischem Sinne mißbraucht wird. Das gilt im Heiligen Land, das von vornherein die Heimat mindestens zweier in sich noch einmal ganz diverser „Völker“ ist, noch eindrücklicher als überall sonst in der Welt. Wie schon so oft sind hier die Probleme der Welt in wie in einer Nussschale konzentriert.
Wir können uns hier nicht nur fragen: Was für Wanderbewegungen hat es in Bezug auf das Heilige Land gegeben? Es geht dabei auch um die Einflüsse aus der Region und der ganzen Welt, die hier zusammenfließen. Das Land Israel/Palästina ist ein Lehrstück in Sachen Komplexität und Vielfalt, was dazu führt, das jedes schnelle Einordnen einer Situation, jedes moralische Urteil, jede Parteinahme notwendigerweise auf das eine oder andere „Aber andererseits…“ stößt. Hier, wo es so viele Fanatiker gibt, die die Komplexität nicht aushalten, können gleichzeitig Fanatiker geheilt werden (frei nach Amos Oz…), wenn sie bereit sind, mal eine Meile in den Schuhen des anderen zu wandern.
Diese Sicht auf die Lage soll in keiner Weise die Probleme verharmlosen oder relativieren, die sich daraus ergeben, dass viele Gruppierungen und allen voran der israelische Staat eben der anstehenden Abkehr vom Nationalstaatsprinzip in den letzten Jahren eher in anachronistischer Weise entgegengearbeitet haben. Das ist die Wurzel der heutigen Frustrationen, vor allem auf palästinensischer Seite. Das wirklich Menschheitliche hat es schwer, wo die meisten Akteure durch ihre jeweilige Geschichte traumatisiert sind und gerade deshalb an ihren Gruppenidentitäten in einer gewissen Exklusivität festhalten. Das ist nicht einzigartig in der Welt, aber im geballten Aufeinandertreffen auf engem Raum entweder tragisch oder bewusstseinsweckend.
Ein Land, das allen gehören müsste, das jedem sichere Heimstatt ist… Pläne dazu gab und gibt es viele, und der erste Schritt auf dem Wege dahin, ist die Hinwendung zur Würde des Einzelnen, der heute eben nicht mehr nur Teil einer Nation sein will. Das gemeinsame Menschenschicksal steht auf dem Spiel, wo es nur um Gruppeninteressen geht, und Fortschritt heißt insofern, das Gemeinsame entwickeln.
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