Leseprobe: Am Kreuz der Erde – Ein Reisejournal aus dem Heiligen Land

von | 3. Jan. 2015

In diesen Tagen ist ein Buch von Ilse Wellershoff-Schuur erschienen, mit dem man entweder auf dem Sofa die Route und die Erlebnisse einer Reise ins Heilige Land nachempfinden – oder aber sich selbst aufmachen kann, um das Land mit ein paar neuen Ideen zu bereisen und ein wenig besser zu verstehen. Im Folgenden einige Auszüge aus den einleitenden Kapiteln:

Yallah!
Seit Jahren ist dieses Buch im Entstehen begriffen. Immer wieder wird daran gearbeitet. Und seit Jahren ist es schwer, das Manuskript fertig zu schreiben. Obwohl das Thema viel Stoff bereithält,obwohl ein Schatz an Geschichten und Erlebnissen aus zwanzig Jahren Reise- und Projekterfahrungen darauf wartet, als zusammenhängende Darstellung bearbeitet zu werden, bleibt die Arbeit seltsam ungeschmeidig. Was für ein Buch soll es werden? Ein Geschichtsbuch? Eine Reportage? Eine Sammlung von Aufsätzen?

Gedanken, Erlebnisse, Begegnungen reihen sich aneinander – zusammenhängend und doch ohne zwingende Linienführung. Bunt wie das Leben in diesem Land. Wild, ein bisschen aufregend, sehr intensiv, scheinbar zufällig und willkürlich – gesucht wird: der rote Faden …

Und wenn es gar kein Faden ist, sondern ein Gewebe? Verflochten, verwoben, verstrickt, verschiedene Strukturen bildend – und doch eine Hülle bildend für etwas, das werden will im scheinbaren Chaos?

Es gibt viel Material, das darauf wartet, nach irgendeinem Gesichtspunkt geordnet zu werden. Und doch fehlten bisher zwei wesentliche Dinge, damit es ein Buch werden konnte: Das eine war der Faktor Zeit, denn ein bisschen Ruhe am Stück braucht es schon, wenn all die Ideen, Beobachtungen, Erlebnisse, aber auch die Erkenntnisse aus dem Studium der Geschichte und der Kulturen zu einem Text aus einem Guss werden sollen. Zum anderen braucht die Idee, die dem Buch zugrunde liegt, eine Form, einen Aufbau, der nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hilft, die Komplexität dieses Landes, seine Vielschichtigkeit und damit seine Bedeutung zu begreifen.
Nun wage ich den Versuch, in einer begrenzten Zeit zu einem vorläufigen Ende zu kommen. Fertig wird man mit der Sache sowieso nicht … Vor mir liegen etwa zwei Wochen, in denen mein Mann und ich eine Studienreise ins Heilige Land leiten werden. Plötzlich ist der Gedanke da, in diesen Tagen eine Art Tagebuch zu führen, in dem ich das Land zu erklären versuche – und dabei einflechte, was an Hintergrund, an Notizen und Beschreibungen an den jeweiligen Orten hilfreich sein könnte. So könnte ein Gesamteindruck entstehen. Der Leser wird zum stillen Reiseteilnehmer.

Geografische Betrachtungen
Wir sollten uns auf der Suche nach dem Besonderen, das hier lebt, zuerst mit den geografischen Bedingungen beschäftigen, um uns auf die Reise vorzubereiten.

Was ins Auge fällt, wenn wir uns die Lage des Landes anschauen, sind zunächst die besonderen geologischen Gegebenheiten: zwischen Mittelmeer und dem tiefen Grabenbruch der Erde, auf dem Weg von Afrika nach Eurasien. Ein schmales Land, das Wegcharakter hat, wie man schon am Zug der Vögel sehen kann, die hier jeden Frühling und jeden Herbst flugs Afrika mit Europa verbinden. Es wird vermutet, dass schon in den Zeiten, aus denen die ersten Funde menschlichen Lebens stammen, hier Wanderbewegungen stattgefunden haben – das ganze Land ein Weg?

Der Grabenbruch selbst wird oft als »Wunde« charakterisiert, die durch größere geologische Ereignisse in urferner Vergangenheit entstanden ist, und die die Geologen zu erklären versuchen. Schon beim Anblick dieses ungeheuren Risses in der Erdoberfläche wird verständlich, warum hier schon immer ein offener Punkt gesehen wurde – der Nabel der Welt, an dem sich Geistiges in Materielles umgestülpt hat.

Hier liegt mit dem Toten Meer der tiefste Punkt der Erde – der Jordan als natürlicher Grenzfluss entspringt im Hochgebirge und fließt als der »Herabsteigende« vom Hermon-Massiv bis 400 Meter unter dem Meeresspiegel in das salzhaltige Gewässer, wo sein Wasser in extremer Hitze verdunstet, sodass der Salzgehalt im Toten Meer mit der Zeit immer weiter ansteigt. Der Wasserspiegel sinkt in jüngster Zeit ständig ab, da im Verlaufe des Jordans Wasser abgezweigt wird für die vielen im Lande lebenden Menschen, so viel, dass der tiefste Punkt der Erdoberfläche jedes Jahr etwa einen Meter tiefer liegt. In den letzten vier Jahrzehnten ist die Oberfläche des Sees so um etwa ein Drittel geschrumpft. Dem Salzmeer gegenüber ist der Tempelberg in Jerusalem, der nur etwa 40 Kilometer vom Toten Meer entfernt auf ca. 750 Meter über dem Meeresspiegel liegt, mehr als 1100 Meter höher gelegen.

Nicht nur in der Ebstorfer Weltkarte aus dem 13. Jahrhundert ist Jerusalem als Mittelpunkt der Erde dargestellt. Eigentümlich mutet das an in dieser trotz allem europäischen Perspektive. Das Heilige Land, Jerusalem, als Dreh- und Angelpunkt der Welt …

Eine andere Darstellung dieser Art ist die Kleeblattkarte von Heinrich Bünting aus Hannover aus dem Jahr 1581. Hier liegt Jerusalem als Schnittpunkt dreier Kontinente in der Mitte der Welt – Europa, Asien und Afrika. Es ist eine berechtigte Anschauungsweise, in der Lage des Landes einen Kreuzungspunkt zu sehen: Auf dem Weg zwischen Ost und West, der die Kulturräume Vorderasiens und Nordostafrikas miteinander verbindet, sowie dem zwischen Nord und Süd, zwischen Europa und Afrika, der dem Großen Grabenbruch folgt.

Das Kreuz nimmt noch einmal klarere Konturen an, wenn man ein Diagonalkreuz zwischen den Kulturräumen daraus macht: Dann haben wir einerseits das alte Spannungsfeld zwischen Ägypten und Vorderasien, wie es in biblischen Zeiten aktuell war – und spätestens seit dem Mittelalter und der Begründung des Islams das Spannungsfeld zwischen Europa und Arabien als zweite Diagonale.

Diese Kreuzmotive sind keine Abstraktionen – sie sind wirkliche Wege, die sich genau an diesem Fleckchen Erde schneiden:
Verkehr und Handel, Kulturaustausch, Begegnung, Berührung und auch Auseinandersetzung und Krieg fanden und finden hier statt und führen nicht nur zu Konflikten, sondern auch zu Bereicherung, Wachheit, Bewusstsein und einer Art anfänglichem, globalem Menschheitsbewusstsein. Die Menschen, die hier leben, stammen aus den Kulturen dieser Spannungsfelder. Nicht erst mit dem modernen Zionismus gibt es in diesem Land immer wieder besondere Immigrationsbestrebungen von verschiedenster Seite. Ein Völkergemisch, das schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden bereitet wurde, nicht auf Dauer angelegt, im ständigen Wandel, erfüllt von dem Gefühl des Fremdseins, und doch von dem Lebensgefühl durchdrungen, am Urquell der Menschheit zu leben.
Das jüdische Volk mit seinem einzigartigen Schicksal trägt zum ungewöhnlichen Charakter dieses Ortes bei, indem es eine besondere Mission für die ganze Menschheit empfindet und gleichzeitig durch zweitausend Jahre Diaspora fast überall auf der Erde fremd war, in der Fremde mitunter heimisch wurde, wo das nicht geschah aber auch der Sehnsucht verhaftet blieb, an den Ursprung und den Ort seiner Verheißung zurückzukehren: in das Land, das ihm zum Wohl der ganzen Menschheit von Gott versprochen wurde.
So ist es kein Wunder, dass an diesem Ort immer auch die Frage des Menschheitsschicksals mit seinem Ursprung und Ziel im Mittelpunkt stand. Vielleicht ist es insofern in höherem Sinne verständlich, dass sich hier die aktuellen Fragestellungen der Welt in einem Brennpunkt versammeln, wie um darauf hinzuweisen, dass es gerade heute keine einfachen Lösungen, keine Patentrezepte, und auch keine eindeutigen Schuldzuweisungen geben kann. Alle typischen Probleme der Menschheit erscheinen gerade hier in überdeutlicher Form. Insofern können wir mit einigem Recht sagen: Überall ist Israel. Oder eben auch: »Wir müssen da nicht hinfahren, um diese Fragestellungen zu erkennen …«
Andererseits bleibt die vielleicht mythisch anmutende Frage, ob nicht ein Angehen der Verwicklungen an dieser wunden Stelle der Menschheit dazu beitragen kann, auch anderswo etwas zu heilen, was verfahren erscheint. Und ob wir mit unserem Verhalten andernorts nicht alle eine Art globale Verantwortung für das tragen, was hier geschieht. Nicht nur aus der Vergangenheit heraus, die uns unlösbar miteinander verbindet, sondern weil wir gerade heute in einer Gegenwart leben, in der es nichts Unzusammenhängendes mehr gibt, geben kann. Die Gegensätze, die hier Spannungen erzeugen, warten auf Heilung. Und so ist das Heilige Land vom christlichen Standpunkt aus nicht Geschichte, sondern seine Geschichten rufen nach Gegenwart, nach wirklicher Geistes-Gegenwart. Sie rufen uns auf, Mensch zu werden, Liebe, Barmherzigkeit, Offenheit, Verantwortungsbereitschaft im Kleinen und dadurch im immer Größeren zu verwirklichen.
Indem wir solche Gedanken denken, beginnen wir schon vor der Reise, etwas von der Bedeutung dieses Landes in der heutigen Zeit zu ahnen.

Am Kreuz der Erde – Ein Reisejournal aus dem Heiligen Land
Ilse Wellershoff-Schuur, Verlag Urachhaus, 19.90€

Ilse Wellershoff-Schuur

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